Wie viel Wallstreet steckt in Walhall? Eine Menge, meint die Wagner-Sopranistin Waltraud Meier im Gespräch mit dem Dirigenten und Komponisten Pierre-Dominique Ponnelle: Wagner habe hervorragend die Mechanismen von Gier und Übertreibungen als sehr menschlich erkannt. Gemeinsam beleuchten beide die Spannungen zwischen Sängern und Dirigenten, sprechen über die Gefahr junger Talente, rasch verheizt zu werden, und beleuchten die besondere Herausforderung eines Liederabends.

Juni 2012

Pierre-Dominique Ponnelle: Hast Du bei der Euro- und Subprime-Krise zwischendurch an den "Ring des Nibelungen" von Richard Wagner gedacht?

Waltraud Meier: Das liegt auf der Hand. Es beweist sich ja gerade, dass diese Mechanismen von Gier und Übertreibungen sehr, sehr menschlich sind. Das hat Wagner schon hervorragend erkannt.

Wagners Enkel Wieland, der von 1951 bis zu seinem Tod 1966 zusammen mit seinem Bruder Wolfgang die Bayreuther Festspiele geleitet hatte, hat schon in den 50ern gesagt, Walhall ist Wallstreet. Kann man Gier nur auf die da oben projizieren?

Nein, jeder ist im Kleinen gierig. Wenn man von Steuerhinterziehung spricht, meinen die Leute, das seien nur die großen Tiere. Aber im Kleinen wissen wir ja auch, was alles so an Geschäfterln an der Steuer vorbei geht. Das ist in der menschlichen Natur.

Aber zwischen fünfe grade sein lassen und einer Konstellation, die das ganze System in den Abgrund reißen kann, ist doch schon ein Unterschied.

Es kommt darauf an, in welcher Funktion der Mensch ist. Jede verändert ihn und macht ihn anders verführbar. Und je höher man steigt, ob in der Wirtschaft, in der Politik oder in der Kunst, umso mehr braucht man Charakter. Wer Macht hat, müsste in größerem Maße diesen Grundsätzen entsprechen.

Und es braucht Kontrollen.

Es wäre eine schöne heile Welt, wenn wir sie nicht bräuchten.

Eine schöne heile Welt wäre aber in der Kunst ganz schön langweilig.

Ja, natürlich.

Kontrolle in der Musik ist nicht ganz einfach. In der Politik gibt es immerhin Wahlen. Im Musikbetrieb ist das nicht ganz so einfach.

Nein, hier sind die Hierarchien noch sehr ausgeprägt. Und alle Freiberufler, die abhängig sind von der Gunst anderer, um wieder engagiert zu werden, sind völlig unfrei. Junge Sänger, die noch keinen Schutz genießen, sind vollkommen angewiesen auf die Gnade derer, die sie engagieren.

Was würdest Du jungen Sängern raten?

Sich psychologisch und diplomatisch sehr gut auszubilden, um diese Gratwanderung zu schaffen: dass man seinen eigenen Weg geht, der möglichst der eigenen Persönlichkeit entspricht. Dass man wahrhaftig und authentisch bleibt, und dennoch damit nicht zu viel aneckt.

Wolltest Du immer schon Sängerin werden?

So mit fünf, da hatten wir eine Dame in der Nachbarschaft, die war im Opernchor. Da wollte ich das. Das war dann aber bald vorbei, dann wollte ich alles andere werden, nur nichts mit Gesang. Denn Singen war für mich etwas ganz Normales, wir haben zuhause sehr viel gesungen. Es war weit weg, dass man daraus einen Beruf macht.

Und wie kam's dann doch dazu?

Mit 17 habe ich privat beim Chordirektor am Würzburger Stadttheater Gesangsunterricht genommen. Nur für mich, ohne Ziel Und ich war in allen Chören, im Extrachor von der Oper, im Schulchor, im Domchor, in einem kleinen Kammerchor und im amerikanischen Chor der Army Base. Ich habe dauernd irgendwo gesungen.

Hast Du auch ein Instrument gelernt?

Schlecht Klavier. Ich bin manuell überhaupt nicht begabt. Aber zurück zum Singen. Mein Lehrer sagte immer: Hier im Raum, wenn Du Unterricht hast, dann tun wir so, als würdest Du die zweite Callas werden. Sprich: Hier legen wir solche Maßstäbe an. Aber wenn Du aus der Türe gehst, sind alle Flausen aus dem Kopf. Du machst Dein Abi und Du studierst. So war das.

War die zweite Callas nicht doch ein Ansporn?

Nö, für mich war das weit weg von jeder Realität. In meiner Familie gibt's keinen Musiker. Ich wollte Lehrerin werden. Aber dann, als ich 20 war, wurde im Würzburger Theater eine Stelle als Mezzosopranistin frei. Da sagte er: "Ich hab keine Ahnung, wie Du auf der Bühne wirkst, aber Du kannst ja mal vorsingen." Es war so ohne Druck.

Also Solistin aus dem Stand?

Aus dem Stand. Meine erste Rolle war die Lola in "Cavalleria rusticana".

Für viele ist es ein Schock, wenn man ihnen sagt, dass die Begabung fürs Professionelle doch nicht ganz reicht. Aber wenn einem unerwartet das Gegenteil gesagt wird, Du bist begabt genug, Wimbledon zu gewinnen oder auf der Opernbühne zu reüssieren, dann muss man das auch erst einmal verdauen.

Och, in der jugendlichen Unschuld, da nimmt man das anders. Ich habe wenig darüber nachgedacht. Ich wusste ja, wenn's nicht hinhaut, gehe ich wieder rüber zur Uni und mache Anglistik und Romanistik weiter. Es war für mich kein Muss dahinter, kein Karrieredruck. Ich hatte einfach Spaß am Singen, und so ist es bis heute geblieben. Ich mache den Mund auf zum Singen und will was von mir geben. Ich will mich ausdrücken.

Wagner war mit 20 Chordirektor in Deiner Heimatstadt Würzburg und hat dort seine allererste Oper "Die Feen" beendet. Gab es da eine mystische Beziehung? Hattest Du von klein auf schon den Hang zu Wagner?

Grad eben nicht! Meine Eltern hatten zwar ein Abonnement fürs Stadttheater, aber auch als ich am Stadttheater war, spielte man keinen Wagner, weil Orchester und Theater zu klein waren.

Und Schallplatten?

Meine erste LP war "Don Carlos" mit Mirella Freni. Die habe ich heute noch.

Wann kam Dein erster künstlerischer Kontakt mit Wagner? War das dann sofort die große Liebe?

Total! 1976 hab ich an einem Wettbewerb teilgenommen in Bayreuth. Ich bin hin und hab natürlich nicht Wagner gesungen, sondern die Eboli-Arie aus Verdis "Don Carlos" und den Cherubino aus Mozarts "Le nozze di Figaro" , und hab den ersten Preis bekommen: Eintrittskarten für den ganzen Ring in der Inszenierung von Patrice Chéreau. Im Zug nach Bayreuth hab ich in Reclamheften das erste Mal den Text gelesen und gedacht, o weia, was kommt da auf mich zu. Ich war gar nicht begeistert. Mein Platz war im Parkett letzte Reihe oben, der Vorhang ging auf und ich saß von Anfang bis Ende auf der Stuhlkante. Ich war hin und weg. Ich kann nicht sagen, was mich mehr begeistert hat, die Musik oder die Regie. Es war für mich ein ideales Gesamtkunstwerk. So muss es sein. Wahnsinn!

Ich gehöre zu der Minderheit, die den Text gut findet.

Ich auch. Aber erst im Nachhinein. Ich muss die Musik dazu hören. Übrigens haben wir mit Patrice vor ein paar Jahren den Tristan aufgedröselt und mal fünf Tage nur Text gelesen. Und da hab ich erst gemerkt, wie unglaublich genial er gemacht ist. Der Text ist wie Musik. Wagner schaut so tief hinein und bringt die Sachen auf den Punkt. Ich habe bei ihm noch nie etwas an einer Person entdeckt, was nicht stimmt. Wenn man eine Rolle mehrere Jahre spielt, und immer wieder den gleichen Monolog oder Dialog singt, würde man ja wohl irgendwann mal fragen: Warum sagt er das jetzt, das passt doch gar nicht. Das hab ich bei Wagner nie bemerkt. Bei vielen andern schon.

Wie siehst Du den Schluss der Götterdämmerung? Da ist Weltuntergangsstimmung, Brünnhilde reitet ja fast wie eine indische Witwe mitsamt Gaul ins Feuer. Wagner schreibt vor, dass der Vorhang fällt, wenn die Götter im Rauch eingehüllt sind. Und dann kommen nach 16 Stunden "Ring" noch sieben Takte: eine Reminiszenz von Sieglindes Liebesmotiv! Ist das mitten im Weltuntergang eine Hoffnung, eine Vision? Sagt Wagner, die Welt kann nur durch die Liebe gerettet werden?

Beides stimmt. Es ist die Hoffnung auf das menschliche Gefühl. Auf die Liebe. Wagner hat ja in allen Opern zum Schluss so einen Erlösungsgedanken. Beim "Parsifal" sowieso, beim "Tristan" auch.

Mir fällt seit vielen Jahren auf, dass die Stimmen kleiner werden. Überspitzt formuliert: Wer vor 50 Jahren Cassio gesungen hätte, der singt heute Othello.

Ich würde eher sagen, die Leute werden anders besetzt. Man wartet nicht mehr so lange, bis jemand die 40 überschritten hat und dann wirklich eine kräftige und ausgereifte Stimme hat. Ich darf da gar nicht von mir reden. Ich war ja auch ein junges Huhn!

Der Wein braucht eine gewisse Reife, genauso ist es mit dem Instrument Stimme. Ob ich fünf Jahre habe, ein Othello zu werden, oder 20, ist ein großer Unterschied.

Ja. Ich seh`s so, dass Leute viel zu früh für große Rollen engagiert werden. Und dann unser heutiger globaler Musikbetrieb, wo man um die Welt gejagt wird! Da spricht es sich schnell herum: Da hat eine die Elsa gesungen, wusch, wollen sie sie dann alle als Elsa haben. Meine erste Isolde habe ich fünf Jahre nur in Bayreuth gesungen. Nur im Sommer und dann das ganze Jahr nicht. In dieser Zeit kamen verdammt viele Anfragen. Jeder wollte, dass ich Isolde hier und da und dort singe. Ich habe gesagt: Nein, mache ich nicht.

Um die Stimme nicht zu überanstrengen?

Ganz genau. Und in Bayreuth war nicht alle drei Tage "Tristan", wie sonst üblich im Betrieb. In Madrid zum Beispiel ist alle drei Tage "Tristan". Da geht man kaputt.

Sind das Zwänge innerhalb der Branche oder gibt es nicht genug Intendanten und Agenten, die das Knowhow und Gespür haben, das richtig zu handhaben?

Es ist eine Mischung. Heute haben viele Intendanten keine Ahnung mehr von den Bedürfnissen von Sängern und von dem, was die Stimme an Erholung braucht. Und es fehlt seriöse Förderung. Als ich in der Bayerischen Staatsoper so um 1982 für ein Engagement vorgesungen habe, hat der damalige Generalmusikdirektor Wolfgang Sawallisch zu mir gesagt, ich sei doch wunderbar, prächtig und schön, aber es sei jetzt noch zu früh für München. Er werde mich im Auge behalten. Das hat er auch getan. 1985 habe ich dann in München als Komponist in "Ariadne auf Naxos" debütiert. Damals hat man langfristiger gedacht. Heute, wo man nach irgendwelchen Kriterien eines Abo-Systems alle zwei oder drei Tage Vorstellung hat, wird oft am Tag vor der ersten Vorstellung eine Orchesterprobe angesetzt. Und das vor einer anstrengenden Partie! Das geht doch nicht! Wie gesagt, ich kann mich dagegen noch eher wehren als ein junger Sänger. Ich habe noch von Menschen profitiert, mit denen ich mich beraten konnte, ob ich eine Partie schon singen kann oder nicht. Und ich habe eine ehrliche Antwort bekommen: Lass Dir damit noch Zeit. Und ich konnte mir dann auch Zeit lassen. Es war nicht so, wenn ich mal Nein gesagt habe, dass...

...Du out warst.

Ja. Wobei ich solche Sachen auch erlebt habe, als mich ein ganz berühmter Dirigent gedrängt hat. Er wollte mich als Elektra und ich habe gesagt, ich bin keine Elektra, die kann ich nie singen. Er sagte: "Doch, mit mir kannst Du's schon!" Ich hab vorher sehr viel mit ihm gesungen, aber ich bin stur geblieben und habe dann nie mehr ein Angebot von ihm bekommen. Wenn ein Sänger mal vernünftig sein will und sagt, ich weiß, wo meine Grenzen liegen, dann fühlen die sich manche Dirigenten in ihrem Stolz getroffen.

Heutzutage sind Intendant und Regisseur viel wichtiger als der Dirigent.

Weil die Regie wichtiger geworden ist. Aber dazu muss ich auch sagen: Die jungen Dirigenten kümmern sich überhaupt nicht mehr um die Bühne. Das ist so auseinander gedriftet. Früher, als ich mit Deinem Vater gearbeitet habe, da kam der Dirigent zu den Proben, hat sich eingemischt, man hat gleich zusammen etwas entwickelt.

1988 ist mein Vater gestorben, '89 Herbert von Karajan, '90 Leonard Bernstein. Mir kommt es im Nachhinein wie eine Zeitenwende vor. Ich will nicht bewerten, ob es seither besser oder schlechter wurde. Aber die Dinge haben sich sehr stark verändert. Der Tod dieser drei hat eine Ära beendet.

Meier: Ich vermisse heute, dass übergreifend künstlerisch gedacht wird. Jeder hat seine Scheuklappen für sein kleines Gebiet. Mit Deinem Vater konnte man über alles reden, egal was in der Kunst los war, er war auf dem Laufenden, ob das Philosophie war oder Literatur oder Malerei. Das war sein Humus. Dieser Humus fehlt mir heute. Die Regieauswüchse in Phantasien sind auch wichtig, aber das kann's doch nicht alleine sein. Ich komme nochmals darauf zurück: Die jungen Dirigenten nehme ich nicht aus der Pflicht. Sie dürfen sich nicht nur auf ihr Gebiet zurückziehen und sagen, mit der Regie haben wir gar nichts zu tun, wir machen unten im Graben die Musik. Wir Sänger fühlen uns allein gelassen. Wir sind in dem Reibungsfeld zwischen der Regie und der Musik. Und werden darin komplett alleine gelassen. Das ist nicht sehr fair.

Dafür braucht man aber erst einmal einen kompetenten Regisseur. Wie verhältst Du Dich? Die Proben beginnen, Du bist gut vorbereitet, hast viel Erfahrung mit der Rolle, hast eine eigene Sicht darauf. Jetzt bist Du mit einem Dirigenten und einem Regisseur konfrontiert, die Deine Partie völlig anders sehen.

Erstmal bin ich neugierig. Ich weiß noch, als ich 2007 mit Patrice den Tristan gemacht habe. Er hat später gesagt, er hätte großen Bammel gehabt mit mir zu arbeiten, weil er wusste, dass ich Isolde und Brangäne mit Deinem Vater gemacht habe und so viel Erfahrung damit hatte. Er war aber schnell beruhigt, als er gemerkt hat, ich bin neugierig auf eine neue Sichtweise. Normalerweis gehe ich mit großer Hoffnung in eine neue Produktion. Und die Hoffnung wird auch manchmal erfüllt.

Und wie verhältst Du Dich, wenn sie nicht erfüllt wird?

Diskutieren, überzeugen.

Hast Du damit gute Erfahrungen gemacht?

Ja und nein. Ich argumentiere, sage, was mir am Herzen liegt, wo für mich das Wesentliche der Rolle liegt. Da muss jemand schon gute Argumente selber haben.

Die Musik einer Oper bleibt ja immer die gleiche. Zu etwas Bestehendem, noch dazu so etwas Komplexem wie der Musik, eine neue Sicht zu finden, die auch emotional passt, ist ja nicht ganz einfach.

Jede Zeit hat ihre Ausdruckskraft. Was heute oft geschieht: Man bleibt an der Oberfläche und ersetzt alte Klischees durch neue. Ein guter Stoff ist zeitlos. Dessen Thematik war gestern wahr und ist heute wahr. Dann kann ich sie durchaus auch mit heutigen Mitteln darstellen. Aber ich muss auf den Grund der Wahrheit gehen..Ich bin auch nicht gegen moderne Mittel, sie müssen aber wirklich und nicht nur klischeehaft etwas klarmachen. Ich finde manche Dinge einfach nur läppisch und nicht auf der Höhe des Themas.

Die Inszenierung muss ja auch zur Musik passen.

Da sind wir auf glattem Eis, jeder hat sein eigenes Gefühl dazu. Gehen wir lieber zurück auf den Text und fragen: Was ist damit wirklich gemeint? Und zwar im Gesamtzusammenhang des Werkes und des Charakters einer Rolle.

Diese Herangehensweise nur über die Komplexität des Textes ist mir ein bisschen zu intellektuell. Da kann man natürlich sehr tiefgehende Analysen und sehr interessante Zusammenhänge herstellen. Aber was nützt es mir, wenn die Musik etwas anderes sagt? Du hast das Wort modern benützt. Das finde ich schwierig. Ich habe neulich in der Münchner Schiele-Ausstellung sinngemäß das Zitat gelesen: Ein Künstler kann nie modern sein, er kann immer nur "allewiglich" sein.

Das ist toll! Das würde ich auch unterschreiben. Große Kunst ist zeitlos. Deswegen sage ich: Jede zeitlose Kunst ist auch modern. Klar, wir müssen unterscheiden zwischen modern und modernistisch. Vieles, was uns als modern untergeschoben wird, ist modisch oder modernistisch. Modern dagegen hat einen zeitlosen Aspekt. Wie jede Zeit mal modern war.

Hast Du Lust, selber zu inszenieren?

Nee, da ist Dein Vater mit dran schuld, aber auch der Chéreau, der Klaus-Michael Grüber und der Götz Friedrich. Alle, die große Regisseure waren, bei denen ich gesehen habe, so muss es gehen, das sind meine Vorbilder. Da habe ich gespürt: Das kann ich nicht.

Das könnte sich ja noch entwickeln. Du hast eine gute Voraussetzung: die profunde Kenntnis des Metiers.

Der Gedanke, was ich später mal machen möchte, fängt bei mir an zu reifen: dass ich mit schon im Engagement stehenden Sängern arbeite. Aber nicht als Interpretin, sondern mehr in Richtung Ausdruck: Gestalt, gestalten. Das trau ich mir zu.

Das sind wir wieder bei Wagner und seinem Aufsatz "Drama und Musik"! Nochmal kurz zu "Tristan". Du hast ja zunächst Brangäne gesungen, später Isolde. Ist das hilfreich oder eher schwierig, wenn man innerhalb derselben Oper in eine andere Psychologie eindringt?

Ich kann in jede Rolle schlüpfen, wenn ich mich damit beschäftigt habe und sie ernst nehme. Ich sehe jede Rolle von ihrer inneren Wahrheit aus. Was aber in diesem Fall schwierig war: Ich habe mir zu viele Isolden ansehen "müssen". Alle anderen großen Partien habe ich nie von einer Kollegin gehört. Bis heute. Ich schaue mir keine Kolleginnen an, die meine Rollen singen. Das mag sehr arrogant klingen, so meine ich das aber nicht. Ich brauche ein Vakuum, um eine Rolle von mir aus zu sehen. Ich will keine Einflüsse. Und grad mit der Isolde, das war so schwer, davon loszukommen. Ich habe drei Jahre gebraucht, bis ich das Gefühl hatte, jetzt ist es meine Rolle.

Kommen wir zu Deinen Münchner Plänen. Zunächst: die Wesendonk-Lieder von Wagner. Sie sind stark vom "Tristan" beeinflusst, zwei der fünf Lieder beziehen sich expressis verbis darauf. Hat Deine Erfahrung mit Brangäne und dann mit Isolde deine Interpretation dieser Lieder verändert?

Wenn, dann unbewusst. Weißt Du, dass wir mit Patrice Chéreau in der Münchener Akademie der Künste und im Louvre in Paris die Wesendonk-Lieder szenisch umgesetzt haben? Mit mehreren Klavieren in mehreren Sälen. Wir haben eine richtig lange Szene gemacht, 40 Minuten, immer wieder von Tristan-Zitaten unterbrochen. D iese Person, wer ist das, die Wesendonk, die Isolde, die Waltraud, die Frau schlechthin? Ihre Rückerinnerung in der Kindheit frühe Tage bis zum Schluss, wo sie ins Nirwana, ins Irgendwohin geht. Eine weite Interpretation.

Ist ein Liederabend sehr anders als ein Opernauftritt?

Es ist natürlich etwas anderes, ich bin kleinfasriger. Viel aufmerksamer. Bei der Oper weiß ich, es geht um etwas Größeres, beim Lied ist alles feiner.

Man ist noch mehr unterm Brennglas?

Ja

Es ist auffallend, wie gut du artikulierst, wie verständlich der Text ist, der beim Lied nochmal einen anderen Stellenwert bekommt.

Klar, weil ich nicht die Bewegung dazu habe. Ich bin eigentlich ein Bewegungsmensch. Mein Ausdruck kommt nicht nur über die Stimme, sondern auch über den Körper, die Bewegung. Wenn beim Liederabend das eine wegfällt und mir klar ist, was ich versenden will, muss ich es mit den verbleibenden Ausdrucksmöglichkeiten noch deutlicher sagen. Und es gibt gar keine Ablenkung für das Publikum!

Zurück zur Oper. Venus im "Tannhäuser" wirst Du auch bald in München singen, und die Marie im "Wozzeck". Kundry in "Parsifal" singst Du sehr oft. Wenn ich die drei Figuren ein wenig zusammenfasse, dann geht es um Eros, um Sinnlichkeit in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Joachim Kaiser hat sinngemäß gesagt, dass man sehr oft auf der Bühne den Venus-Akt in einer Mischung aus Stranderinnerung und schummriger Gymnastik sieht. Reine Sinnlichkeit darzustellen, ist sehr schwierig.

Sinnlichkeit entsteht durch Lebenslust. Freude, Lust, Genuss, alles das würde mir zu Sinnlichkeit einfallen.

Wie stellt man das auf der Bühne dar?

Es ist dieser Zustand, dieses Bejahende. Ich glaube, es gibt nichts Sinnlicheres als wenn jemand "Ja" zu Freude, Lust und Genuss sagt.

Im Gegensatz zu den "kalten Menschen", von denen Venus im "Tannhäuser" spricht?

Ja. Freude, Genuss, das ist doch sinnlich.

Redaktion: Peter Schmalz. Das Gespräch erschien in der Ausgabe Juli 2012 des Magazins "Der Peutinger - Bayerischer Monatsspiegel".

Interview - Focus, Ausgabe Nr. 1 vom 4. Januar 2010

Was macht eine Stimme schön?

Natürlichkeit, Wärme, Kraft. Leichtigkeit, Freiheit, ja Persönlichkeit. Ich finde es immer wichtig, dass eine Stimme unverwechselbar ist. Und dass sie beim Zuhören etwas anrührt. Dass es einen selber öffnet und weitet.

Wie ist davon ein Geschenk, wie viel ist harte Arbeit?

Dieses Fünkchen Timbre, das ist ein Geschenk. Die Tatsache, dass die Stimme frei schwingen und sich entfalten kann, das ist die Technik. Natürlich braucht man auch dafür ein Talent, Theoretisches in die Körperlichkeit umzusetzen. Wenn man es dann begriffen hat, ist es viel Arbeit, viel Üben.

Die frei schwingende Stimme. Besitzen wir sie als Kinder, und erstarrt sie bei Erwachsenen?

Durch die Sozialisierung geht viel verloren. Das Kind hört: Sei leise! Kinderchöre in südlichen Ländern plärren noch so wunderbar. Je angepasster die Kinder sind, desto piepsiger wird ein Chor. Da wird etwas unterdrückt. Wir müssen die Stimme wieder befreien, sie ohne Druck, ohne Manipulation strömen lassen. Ich vergleiche Musik mit etwas strömen lassen.

Will da etwas aus Ihnen heraus?

Ja. Lebensfreude, Lebensenergie, Lebenslust will sich manifestieren durch Stimme. Wo das Wort nicht ausreicht, da geht die Emotion in Gesang über. Das Singen ist noch einmal extra Sprache, eine Seelensprache.

Eine Sprache der Klänge, nicht der Wörter?

Ursprünglich ja. Aber wenn sich Musik und Sprache verbindet, entsteht eine Vollkommenheit, die hat kein Instrument.

Begreifen Sie Ihre Stimme als Instrument?

Nur im technischen Sinne. Die Gesangsausbildung ist bei uns ja leider meist nur eine Stimmbildung. Es wird das Instrument gebildet, aber man lernt nicht, darauf eine ausdrucksvolle Musik zu machen, gute Werkzeuge gut einzusetzen. Da geht für mich eigentlich erst die Kunst los.

Was ist ein solches gutes Werkzeug?

Das Wissen, wie man mit Atem umgeht. Auf den Atem hinauf sende ich meinen Ton. Singen ist für mich wie Bogenschießen. Sie müssen den Bogen spannen, und dann die Stimme loslassen wie einen Pfeil. Den Pfeil greifen sie nur an einer kleinen Stelle und ziehen ihn weit - über den Hinterkopf, den Rücken hinunter, in die Nieren. Je höher der Ton gehen soll, je weiter, je lauter, desto tiefer im Körper müssen sie denken. Wenn sie denken, der Ton muss einfach nach vorne raus, dann kippt er ihnen vor die Füße. Sie müssen quasi ein Gegengewicht schaffen, die Gegenspannung. Bei hohen, langen und lauten Tönen, ramme ich mich in den Boden rein.

Ist ihr Instrument nicht besonders sensibel? Schlägt sich nicht ihre Stimmung auf die Stimme nieder?

Das Singen ist Seele, die sich ausdrücken will. Natürlich schafft es ein Profi, jegliche private Emotion nicht spüren zu lassen. Ob der gram vor Sorgen ist, oder ob er sich gerade sehr gefreut hat, sollte man nicht hören. Ich habe es auch geschafft in schlimmsten Momenten. Ich habe gerade erfahren, meine Mutter ist gestorben, und ich hatte zwei Stunden später einen Liederabend.

Das hat niemand gemerkt?

Rein technisch nein. Mein Pianist hat gespürt, dass eine große Emotionalität in den Liedern war. Ich habe Rückert-Lieder gesungen: "Ich bin der Welt abhanden gekommen." Da musste ich schlucken. Die Tränenschwelle war niedrig.

Wie erzeugen Sie mit der Stimme Stimmung, wenn Sie selbst nicht einer so emotionalen Situation sind?

Je mehr ich Glaubhaftigkeit, Authentizität, Wahrhaftigkeit hineinbringe, desto mehr berühre ich. Wenn ich einem Schüler, der technisch alles hat, beibringen möchte, wie er die Menschen bewegt, sage ich ihm: Trau dich, dich zu zeigen. Bilde dich. Bilde dich menschlich. Bilde deine Herzenswärme, bilde Barmherzigkeit, bilde Freude, bilde Liebe. Lebe ganz bewusst und lebe voll und trage das nach außen. Das ist das einzige, was ich tun kann: Als Mensch reich werden im humanen Sinn. Dann kann man was geben.

Sie haben kein Lampenfieber?

Sie haben umso weniger Lampenfieber, je mehr Sie auf Ihr Können vertrauen können. Ich gehe mit einem Gefühl von Angriffslust heraus. Mit einer Neugier zu sehen: Was gelingt mir heute?

Ich kenne aber den Zustand. Zehn Jahre nachdem ich angefanen habe zu singen, habe ich ungeheure Panik geschoben. Es ist nicht so, wie Leute denken, dass man die Nervosität braucht, damit nachher auf der Bühne was Kreatives heraus kommt. Alles Quatsch. Das Zwerchfell beginnt zu zittern. Aber indem ich Angst vor der Angst habe, mache ich es noch schlimmer. Es helfen eigentlich nur zwei Dinge: Es zu akzeptieren. Und tief auszuatmen. Denn durch die Angst hält man den Atem. Vor den schwierigen Stellen muss man locker bleiben. Sich immer wieder sagen: Es muss ja nicht daneben gehen. Und wenn's halt mal daneben geht, darf man sichnicht geißeln und muss sich sagen: Ich bin halt auch nur ein Mensch.

Sehen das die Kritiker auch so?

Es ist manchmal sehr grausam. Laien und auch Kritiker können nicht zwischen einem Lapsus und einer Krise unterscheiden. Aber sie tun so. Deshalb werden sie von uns Sängern nicht sehr ernst genommen. Selbst viele Dirigenten verstehen nichts von Gesang. Ich kenne keinen einzigen Regisseur, der sich auskennt. Wie soll da ein Kritiker Bescheid wissen? Mir gefällt am ehesten, wenn jemand persönlich schreibt. Das finde ich noch am glaubhaftesten.

Wer kann Ihnen denn kompetent etwas sagen?

Kollegen. Wir haben manchmal sehr gute Freundschaften und gehen sehr ehrlich miteinander um.

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